Rezensionen gutingi 259

 

Das Orchester März 2019

Es ist das Phänomen der ständig sich verändernden Wolken, an das der Titel von Violeta Dinescus Etudes de nuages gemahnt: die wechselnde Erscheinungsweise dieser flockigen Gebilde, die als Projektionsfläche für Assoziationen dienen kann und unsere Fantasie dazu anregen mag, die am Himmel sichtbaren Formen und Strukturen gegenständlich zu deuten.
Analoges geschieht in den Etüden: Dinescu hat hierfür zahlreiche Einzelstimmen für Violine geschaffen, die medial übereinander geschichtet werden, Schicht für Schicht eingespielt und mit vielen Facetten versehen von der Geigerin Marie-Claudine Papadopoulos. Dabei wandelt sich der Zyklus in sieben Schritten zu einer Abfolge immer komplexerer Gebilde und fordert, zugleich Raum für Assoziationen bietend, unser Hörvermögen heraus.

 Während sich der musikalische Verlauf der ersten Etüde für zwei Violinen noch gut mitverfolgen lässt, verliert das Ergebnis mit zunehmender Verdichtung – über vier, sechs, acht, zwölf und vierzehn bis zu sechzehn Violinen – allmählich an Prägnanz. Während so die individuelle Wirkung der violintechnisch herausfordernden Einzelstimmen in einen von Stück zu Stück dichteren Klangstrom neutralisiert wird, entsteht zugleich ein Gewebe aus vielfältig artikulierten Violinfäden, dessen Klangfülle zwar mit jeder weiteren Etüde anwächst, das aber zugleich auch stärker ausdifferenziert erscheint, je mehr Instrumente daran beteiligt sind.
Ursache hierfür ist das Hervortreten prägnanter klanglicher oder melodischer Komponenten, die den Eindruck einer in sich bewegten Fläche aus ständig wechselnden Vorder- und Hintergründen erzeugt, wobei immer wieder charakteristische Elemente und ausdrucksgesättigte Gesten die Aufmerksamkeitsschwelle überschreiten.

 Ebenso spannend wie anspruchsvoll ist daher der Versuch, die einzelnen Stücke hörend zu durchdringen, die Aufmerksamkeit in Phasen der dynamischen Reduktion oder Zurücknahme der Dichte auf das Hervortreten eines kurzen solistischen Moments zu richten und diesen dann in den wiedererstarkenden Klangmassen zu verlieren, während zugleich andere Gestalten in den Hörraum dringen. Dass das Gesamtergebnis nicht zum undifferenzierten instrumentalen Rauschen wird, sondern jeweils genau durch Mittel wie Dynamik und Artikulation geformt ist, verdeutlicht, mit welcher Sorgfalt Dinescu sich der kompositorischen Feingestaltung aller Einzelparts gewidmet und dazu auf eine oft sprachnah anmutende und mitunter den Idiomen osteuropäischer Volksmusiktraditionen verpflichtete Machart zurückgegriffen hat.

 Letzten Endes sind diese Etüden ein Experiment in Wahrnehmungsschulung, das dezidiert auf den Prozess des Hörens und die damit verknüpften Konstruktionsleistungen sowie auf die Entstehung von Erinnerung verweist: wenn nämlich das Ohr von der Oberfläche weg gelenkt wird und Erinnerung dort einzurasten beginnt, wo man Splitter von Zurückliegendem zu identifizieren vermeint und das solchermaßen Gehörte an bereits Wahrgenommenem zu messen beginnt.

 Stefan Drees

Beckmesser August 2018

Im Falschen das Richtige

Ausgehend vom Bild flüchtiger Wolkengebilde schichtet Violeta Dinescu in ihren sieben „Études de nuages“ sukzessive Vio­linstimmen vom Duo bis zur sechzehnstimmigen Polyphonie übereinander. Marie-Claudine Papadopoulos hat das mit feuriger Intensität im Playback-Verfahren eingespielt. Die Vielfalt der Figurationen, in denen die rumänische Geigentradition nachhallt, weitet sich zu einem Fest sinnlich aufblühenden Klangs und suggeriert schon in Stereo einen faszinierenden Raumklang. Auf einer zweiten CD betreibt die Komponistin eine solche Expansion im elfteiligen Klavierzy­klus „Flügel und Trümmer“. Auch hier öffnet sich wieder ein Klangraum, mal kontemplativ, mal dramatisch, den man entspannt durchwandert. Das Spiel auf einem alten, herzzerreißend verstimmten Klavier (Sorin Petrescu) erzeugt eine Atmosphäre von irisierender Farbigkeit – im Falschen öffnet sich eine Tür zu einer phantastischen Wirklichkeit.

Max Nyffeler

Klassik heute August 2018

Der Kosmos von Violeta Dinescu hat etwas monolithisches, was für eine hohe künstlerische Konsequenz spricht. Ein Klangideal entwickeln, daraus eine Methode ableiten, diese unterschiedlichsten Sujets und spezifischen Interpreten einverleiben – darum geht es bei den den zyklischen Kompositionen der Rumänin. Ein radikales additives Zuspielverfahren ist auch bei der neuesten Veröffentlichung Teil des ästhetischen Konzepts: Ein einzelnes Instrument tritt mittels Overdub mit sich selbst in den Dialog. Zweifach, vielfach, sechsfach und so weiter, bis schließlich das eigentliche Soloinstrument zu einem echten Orchester versechzehntfach (!) daher kommt. Im aktuellen Fall hat sich Violeta Dinescu der Solovioline verschrieben. Und dieses Unterfangen erweist sich unter den Händen der fabelhaften Interpretin Marie-Claudine Papadopoulus als Königsdisziplin für solche Experimente. Das heißt: So wie schon Bach das Spannungsfeld zwischen einstimmigem Saiteninstrument und polyphophem Orchestersatz gerade auf der Violine zu einer komplexen Tonarchitektur auf vier Saiten perfektioniert, so reizt das homogene Spiel dieser Interpretin jeden noch so kühnen Multiplikatoreffekt aus und bleibt sich selber dabei treu. Ob sich damit auch der gewählte Titel „Etudes de Nuages“ erfüllt, soll der Hörer für sich entscheiden. Etudes? Auf jeden Fall. Dinescus Tonsprache nimmt mit akribischer Strenge kompositorische und spieltechnische Phänomene unter die Lupe, verdichtet sie zu sequenzierenden Abläufen, lässt keinen Widerspruch mehr bestehen zwischen Zitaten aus rumänischer Volksmusik und am mathematischen Reißbrett geplanten formalen Ideen. Nuages? Nun, das versteht hier wohl keiner im Sinne eines „Impressionisten“ wie Debussy. Marie Claudine-Papadopoulos Spiel ist zupackend und bedrängend, was vieles, nur keine am imaginären Himmel vorbeiziehenden Gebilde assozieren lässt. Im vorliegenden Fall wähnt sich der fantasiebegabte Hörer eher in einer turbulent brodelnden Wetterküche. Luftmassen kollidieren miteinander, türmen schwere, sich ständig verändernde Kolosse auf. Allein Violeta Dinescus Tonsprache brauchte manchmal etwas mehr dramaturgische Beweglichkeit und einen stärker spürbaren Atmen. So könnte eine bessere dynamische Dramaturgie dem allzu statischen Dauerzustand vorbeugen helfen.

Trotzdem gehört dieser Tonträger zu den eher starken Statements in diesem etwas hermetisch anmutenden Œuvre: Der Beziehungsreichtum zwischen Einzelinstrument und einem immer größer werdenden homogenen Geflecht birgt faszinierende Aspekte. In dieser Hinsicht hat die Komponistin in ihrer Interpretin die ideale Mittlerin gefunden.

Stefan Pieper

 

 
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