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Klassik heute September 2018

Der Titel ist Programm: „Flügel und Trümmer“ ist diese Einspielung mit dem gleichnamigen Zyklus von Violeta Dinescu überschrieben. Die rumänische, 1953 geborene Komponistin lebte seit vielen Jahren in Deutschland, wo sie an der Oldenburger Carl von Ossietzky Universität Angewandte Komposition unterrichtet. Programm ist der Titel dieser CD, der auch einer der Titel der hier eingespielten Werke ist, insofern als Dinescus Musik nicht selten bruchstückhaft klingt. Trümmerstücke, Fetzen einer musikalischen Textur werden mit Momenten von eruptiver Brillanz und höchster Poesie verwoben. Es ist eine Musik der Extreme, die der rumänische Pianist Sorin Petrescu hier auf einem präparierten Flügel spielt, Musik, die sich üblichen Hörerwartungen entzieht, und die gleichwohl durch ihre Unmittelbarkeit und kompositorische Stringenz fasziniert.

Leichte Kost ist sie dennoch nicht. Dinescu spielt mit Hörerwartungen ebenso wie mit instrumentalen und musikalischen Grenzen. Ihre Musik ist nicht selten eine Trümmerlandschaft, eine Ansammlung aus zerklüfteten Bruchstücken wie sie extremer kaum sein könnten. Dennoch fasziniert sie ungemein, das Hinhören lohnt sich. Das liegt nicht zuletzt an Sorin Petrescus ebenso kraftvoller wie differenzierter Interpretation. Der Pianist, der sich auch poetisch mit Dinescus Musik auseinandergesetzt hat, bleibt diesen Werken nichts schuldig, auch hier gilt: Ohren auf! Ungewohnte Höreindrücke verschafft nicht zuletzt der präparierte Flügel. Zu Details schweigt sich das Booklet leider aus, doch reicht die Palette von zarten Verstimmungen über kaum definierbare Sounds bis hin zu sphärischen Klängen, die geradewegs aus einem elektronischen Synthesizer zu kommen scheinen. Auch das lohnt ein genaues Hinhören allemal.

Guido Krawinkel

 

ACTUALITATEA MUZICALĂ Rumänien Oktober 2018

 

„Flügel und Trümmer“ – ein CD-Album von Violeta Dinescu ...

 

... umfasst einen Zyklus von elf Klavierstücken, die der bekannte Temeswarer Solist Sorin Petrescu, Gründer des Ensembles für zeitgenössische Musik „Trio Contraste“, interpretiert. Sie wurden 2018 im Saal der Banater Philharmonie in Temeswar aufgenommen.

 

Violeta Dinescu, die seit 1996 als Professorin an der Carl-von-Ossietzky-Universität in Oldenburg (Deutschland) musikpädagogisch eine rege Tätigkeit ausübt, ist eine äußerst produktive Komponistin, die große Anzahl von veröffentlichten Alben ist bemerkenswert für eine zeitgenössische Komponistin klassischer Musik. Die Begriffe, die den Titel des Albums (der gleiche wie der erste Teil des Zyklus) bilden, sind Metaphern, „Flügel“ symbolisiert das sich Entfernen von den gefährlichen irdischen Anziehungskräften, während „Trümmer“ für die natürlichen Prozesse des Auflösens, der Desintegration steht, aber auch für die zerstörenden Kräfte wie der Krieg. „Flügel und Trümmer“ haben auch eine musikalische Konnotation: Die Melodien und Akkorde schweben wie auf Flügeln schwerelos durch den Klangraum, während die Trümmer sich auf das Verschlungene, das Düstere der Existenz beziehen. Im historisch-musikalischen Kontext verweisen sie auf die Zertrümmerung traditioneller Formen, die mit den allzu starren Konventionen brechen und sie in „moderne“ Musik verwandelt. Konkret bezieht sich Violeta Dinescu auf Walter Benjamins These in „Über den Begriff der Geschichte“, die er zu Beginn des Zweiten Weltkriegs verfasst hatte. Benjamin geht darin auf ein Bild von Paul Klee ein, das er 1921 erworben hat: „Es gibt ein Bild von Paul Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen, und seine Flügel sind aufgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“ Hier einige Zitate aus dem Vorwort zur CD von Egbert Hiller:

 

– Im Prozess der Erarbeitung dieser Klavierstücke hat Sorin Petrescu eine Reihe von Assoziationen in drei eigenen Texten gefasst. Im ersten thematisiert er indirekt die Trümmer der Vergangenheit: „Alte Sachen. Veraltete Dinge, veraltete ... einige davon schätzen wir, die Antiquitäten, Kunstsammlungen, das Aufsuchen von Ruinen. Aber wissen wir, wie viel Leben sich dahinter verbirgt? Wissen wir, wie viel Leben wir vor uns haben, wie viel Licht wir noch ausstrahlen? Es gibt auch andere Sachen, die wir verachten: Wir werfen sie weg, verbrennen sie; jene, die vor uns gegangen sind, vergessen wir allmählich. Wir sehen nicht das Leben, das gerade für uns zittert – ein zitterndes Licht, das sich immer weiter entfernt.“

 

Zitterndes Licht und sein heller Widerschein charakterisieren das Stück Nr. 1. Von der anfangs milden Melancholie geht eine vor Inbrunst leuchtende Aura aus, die wie auf Flügeln, von Windböen verweht, über eine traumverlorene Trümmerlandschaft schwebt.

 

Violeta Dinescus Musik setzt hier zum Flug an, ohne sich im Schwärmerischen zu verlieren und die „Trümmer“ der Existenz auszublenden. Ihre Klänge erinnern an bizarre Drachen, die mit der Erde durch lange Luftlinien verknüpft sind und „Flugbilder“, so auch der Untertitel, erzeugen. Fast alle Teile des Zyklus` entsprechen literarischen Quellen, die in Musik umgesetzt werden.

 

– Im Stück Nr. 2, „... von wannen alle Strahlen stammen ...“ greift Dinescu eine Zeile aus Friedrich Rückerts „Kindertotenliedern“ auf: „Nun seh ich wohl, warum so dunkle Flammen“. In Rückerts Text ist der Tod unausweichlich, gleichzeitig transferiert er ihn auf eine kosmische Ebene, wie aus den letzten Versen des Gedichts ersichtlich wird: „Was dir nur Augen sind in diesen Tagen: / In künft'gen Nächten sind es dir nur Sterne.“ Violeta Dinescu gestaltet musikalisch die Auflösung der Grenzen mit kontemplativen Sequenzen, die den Hauptteil bilden, sowie aufgewühlenden Klängen.

 

— Schläge – geräuschhafte Klänge aus dem Innern haben wohl Sorin Petrescu zu einem zweiten Textfragment inspiriert, das er „eine Art Dialog“ nennt: „Das Klavier ist kein Klavier mehr, es ist eine Ruine. Man kann darauf nicht mehr spielen, der Mechanismus ist kaputt, es klingt beleidigend, manchmal seltsam. Wir werden ein neues kaufen. Was geschieht jedoch mit dem alten? Es ist kein Platz mehr da für diese ,alte Schachtel`. Irgendwie müssen wir sie loswerden. Doch mir gefällt, wie sie klingt. So anders, wie ein Gedanke, der noch nicht in Worte gefasst wurde, wie eine wunderbare Erinnerung ... Doch seien wir ernst, das Klavier hat sein Leben gelebt. Ein anderes wird folgen.“

 

– Im „Abendgebet“ (Nr. 3) wird der Verlust in klanglich strahlende „Perlen“ umgewandelt, die letztendlich in Schweigen untergehen. Jedes der vierten, fünften und sechsten Teile des Zyklus entsprechen einem Fragment aus dem Gedicht „Der uns die Stunden zählte“ von Paul Celan: „Der uns die Stunden zählte, / er zählt weiter. / Was mag er zählen, sag? / Er zählt und zählt. // Nicht kühler wirds, / nicht nächtiger, / nicht feuchter. // Nur was uns lauschen half: / es lauscht nun / für sich allein.“ „Nicht kühler wirds“ (Nr. 4) ist von starken Kontrasten gekennzeichnet, die antiphonisch aufeinander reagieren: Passagen strahlender melodischer Präsenz treffen im Wechsel auf dumpfe, perkussive Klänge. „... nicht nächtiger“ (Nr. 5) kennzeichnet emphatische Akzente mit durchdringenden Figuren und schwierigen Akkorden, während die Klänge in „... nicht feuchter“ (Nr. 6) wie ein Paukenschlag wirken und diametral entgegengesetzt sind zur geheimnisvollen Welt der Geräusche in Nr. 7, „Uraltes Wehn vom Meer“. Inspiriert wurde die Komponistin von Rilkes Gedicht „Lied vom Meer“, das er am 26. Januar 1907 in Piccola Marina auf Capri geschrieben hat. Sie setzte das Stück an zwischen einem verfremdeten Nocturno und einer Unterwasserwelt mit abstrakten Tönen: „Uraltes Wehn vom Meer, / Meerwind bei Nacht: / du kommst zu keinem her; /wenn einer wacht, / so muss er sehn, wie er / dich übersteht: / uraltes Wehn vom Meer, / welches weht / nur wie für Ur-Gestein, / lauter Raum / reißend von weit herein ... / O wie fühlt dich ein / treibender Feigenbaum / oben im Mondschein.“

 

– Die Nummern acht, neun und zehn sind an Edgar Allan Poes Gedicht „A Dream“ angelehnt. „In dunkler Nächte Gesichten / träumte mir von versunkenem Glück,

 

doch ein Traum vom Leben, dem lichten, / warf mich gebrochen ans Ufer zurück. // Ach, was gilt dem des Tages Traum, / dem alle Dinge rings nur senden / Blicke wie aus

 

dunklem Raum, / erloschener Augen süße Spenden? // Dieser heilige Traum, heilig und teuer, / den alle Welt als töricht von sich weist, / hat mich erwärmt wie Liebesfeuer,

 

meines Leitsterns einsamer Geist. // Was vor solchem Licht, / das durch Sturm und Nacht

 

mir erzittert von so fern, / was könnte mit reinerem Strahle wohl bedacht / Wahres künden eines Tages Stern?“ Im längsten dieser drei Stücke „What Thought That Light“ kreuzen und queren sich gegenläufige Stimmungen und Figurationen, die sich in immer neue Klang- und Lichtträume vortasten. Gefasst knapp und bündig, erzählt „... So Trembled From Afar ...“ keine Geschichte über das Spazierengehen „durch Nacht und Sturm“, sondern eher von einem inneren, extrem bewegten Befinden, das durch unbändige Expressivität zum Ausdruck kommt. Das Motiv des „Erzitterns“, das in leuchtenden Noten und Notenwolken, die von Blitzen durchzogen werden, wiedergegeben wird, macht den Titel nahezu physisch spürbar.

 

Den Klavierzyklus „Flügel und Trümmer“ beendet erneut eine literarische Anknüpfung. Violeta Dinescu wählte im 11. Stück „Von fern die Sternstunde geht“ das Gedicht „Pont du Carrousel“ von Rainer Maria Rilke aus, das er 1902 in Paris geschrieben hat: „Der blinde Mann, der auf der Brücke steht, / grau wie ein Markstein namenloser Reiche, / er ist vielleicht das Ding, das immer gleiche, / um das von fern die Sternstunde geht, / und der Gestirne stiller Mittelpunkt. / Denn alles um ihn irrt und rinnt und prunkt. // Er ist der unbewegliche Gerechte / in viele wirre Wege hingestellt; / der dunkle Eingang in die Unterwelt / bei einem oberflächlichen Geschlechte.“ Die Irrungen und Wirrungen des menschlichen Geschlechts ist das Hauptthema des Gedichts, sein Suche nach Sinn und der Zweifel am Menschen. Violeta Dinescu reflektiert diese Thematik mit sehr unterschiedlichen Klangkonstellationen, deren Farbe und Form an Momente aus früheren Stücken erinnern. Zugleich wird eine Atmosphäre des Abschied spürbar, den sie über zunehmend verschwindende Klänge gestaltet.

 

Im dritten und letzten Text „Flügel und Trümmer“ nahm Sorin Petrescu die Themen Abschied und Tod von neuem auf: „Die Möwe durchmisst mit ihren Flügeln die unendliche Weite des Raumes, sie beherrscht das gleichgültige Meer. Dann setzt sie sich hin, klug wie sie ist, auf eine Ruine. Sie fühlt sie, sie kennt sie, sie ist ihr lieb ... sie flöge nicht weg, wenn sie befürchten würde, den Weg nicht mehr zurückzufinden. Mein Vater hatte Flügel. Erst jetzt, ohne Flügel, lernt er fliegen ... ich glaube ... ich glaube an Gott, den Herrn!“ Diese sehr persönlichen Worte Petrescus, spirituell geprägte Gedanken in Erinnerung an seinen verstorbenen Vater, nehmen auch Bezug auf eine Fotografie von Alexander Bold. Auf ihr ist eine Betonkonstruktion am Meeresufer mit einer Möwe im Anflug zu sehen. Violeta Dinescu hat sie symbolisch mit dem Klavierzyklus „Flügel und Trümmer“ in Verbindung gebracht. Der Kunsthistoriker Helmut Orpel macht zwei Grundsäulen in den Fotografien von Alexander Bold aus: Stille und Monumentalität. Obwohl Violeta Dinescus Musik nicht „still“ und auch nicht „monumental“ ist, so fasziniert der Zyklus durch einen enormen Reichtum an Assoziationen und ein weites Spektrum an logischen klanglichen Verknüpfungen, deren Palette von zarten Verstimmungen über kaum definierbare Sounds bis hin zu Klängen reicht, die Emotionen und meditative Introspektion auslösen.

  

George BALINT

 

 

 
 
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